Tilly Keiser

Ausstellungstexte, ARK Basel, 2023

Marokko-Reise
1967 schenkt Tilly Keiser ihrem Sohn Raymond Chobaz zu dessen Matura eine zweiwöchige Marokko-Reise − aus den Eindrücken speisen sich während der folgenden fünf Jahre die ersten Höhepunkte ihres malerischen Werks. Schwankten erste Suchbewegungen noch zwischen dem frühen Van Gogh, dem veristischen Otto Dix, Paula Modersohn und Otto Abt, so entwickelt sie als 46-Jährige erstmals einen unverwechselbaren Stil. Dieser erinnert in seiner virtuosen Verbindung präziser Charakterisierung und skizzenhafter Improvisation des Dekors an die Meisterschaft privater Ölskizzen eines Rubens oder Delacroix. Im strengen Verzicht auf Buntfarben entwickelt Keiser eine überragende Differenzierung der Hell-Dunkel-Intervalle − eine der Grundbedingungen wirksamer Bildorganisation.

Selbstbildnisse / entscheidende Erfahrungen
Zwei frühe Selbstbildnisse (auf den Staffeleien) zeigen die Malerin in verhaltener Buntheit selbstbewusst hinter der Staffelei und im schwarzen Trikot als Balletttänzerin. Mit dem um 1960 intensivierten Kontakt zu Max Kämpf wechselt Keiser entschieden zum Clair-Obscure der «Basler Graumaler».
Meist sind es prägende Erfahrungen wie die Geburt ihres Sohnes, welche Keiser zum Malen bewegen. Die mit grosser Empathie gestalteten Bildnisse des 14-, 22- und 24-jährigen Raymond Chobaz gehören zu ihren besten Porträts. Später malt sie ihn mehrmals – vermutlich nach Fotografien – als dynamischen Dirigenten. Es war für sie eine grosse Genugtuung, dass er als Künstler vollumfänglich reüssierte, nachdem dies ihrem Vater und ihr selbst versagt blieb. Das späte Selbstbildnis Junge Mutter malt Keiser als 74-Jährige. Es bezieht sich vermutlich auf die Fluchtphantasien mit einem Geliebten, welche sie als 32-Jährige umtreiben: 1953 hat Tilly Keiser den Ungarn Paul Krieger kennengelernt, der sie zu überreden versucht, mit ihm und ihrem Sohn auszuwandern.

Liebe, Tod und Trennung – Grenzsituationen als Motive
Die künstlerische Nähe von Kämpf und Keiser zeigt sich in den gegenseitigen Porträts. Während der Entstehung des Bildes Megge discutant soll Max Kämpf von Tilly Keiser gefordert haben, dass sie die am rechten Bildrand knapp noch sichtbare Flasche übermale, damit man seine rhetorische Geste nicht als die eines Säufers missverstehe – Kämpf war tatsächlich ein überaus fleissiger Biertrinker.
In Keisers Themenwahl festigt sich die Neigung zu pathetischen, melodramatischen und tragischen Inhalten. Erinnert das Bild Trennung (ganz rechts auf dieser Wand) an die Reihe der Filmplakate, so zeigt sich in Verletzter unverkennbar der Schauspieler Franco Citti als Ödipus in Pier Paolo Pasolinis Edipo Re. Das an Goyas Spätwerk erinnernde Ausnahme-Werk Kriegsgewinnler (im Keller ausgestellt) bestätigt jedoch die Regel, dass die Malerin zunehmend von eigenen, unmittelbaren oder erinnerten Erlebnissen ausgeht und fortan literarische, medial übermittelte Inhalte nicht mehr aufgreift.
Mit Max Kämpfs Tod (1982) fällt Keiser erneut in schwere Depressionen, die Graumalerei wird bisweilen fast zur Schwarzmalerei. Bis zu ihrem eigenen Tod malt sie immer wieder Bilder, die vom Sterben und Tod ihres Freundes sowie von der eigenen Todesaussicht geprägt sind.

USA-Reisen
Die Postkarten ihres Sohnes aus Utah machen Tilly Keiser neugierig auf amerikanische Landschaften. 1973 fasst sie den Entschluss, für ein paar Monate ihren Sohn in den USA zu besuchen. Max Kämpf schliesst sich ihr an. 1973, 1975 und 1980 reisen Keiser und Kämpf in die USA. Raymond Chobaz (junior) chauffiert die beiden 1973 in einem Mietwagen durch den Westen Amerikas, 1975 in seinem Pontiac Catalina durch die Südstaaten. Auf dieser zweiten Reise wird Keisers und Kämpfs Interesse an der indigenen Bevölkerung entfacht; Kämpf will schliesslich nur noch Utah sehen, 1980 nur noch Mexican Hat, eine Siedlung an der Grenze zum Monument Valley in Utah. Zurück in Basel, malen beide zahllose Gemälde mit «Indianerinnen» und «Indianern» sowie Landschaften des Monument Valley. Kämpf verkauft so gut wie noch nie, auch seine Lithographien finden grosse Verbreitung. In der umfangreichen Kämpf-Literatur erscheint Tilly Keiser − wenn überhaupt − nur unter ihrem bürgerlichen Namen Tilly Chobaz und wird nie als Malerin, sondern nur als Kämpfs Reisebegleiterin genannt.
Auf der letzten Reise ist Kämpf bereits schwer krank. Ohne die tägliche Unterstützung seiner Freundin hätte er nach seiner eigenen Aussage die 1978 erfolgte Krebsoperation nicht überlebt. Sie pflegt den bettlägerigen Freund über drei Jahre. Auch die letzte USA-Reise kann nur mit ihrer Hilfe realisiert werden.
1978−80 wohnt Max Kämpf bei Tilly Keiser, sein Bett steht in ihrer Atelier-Stube. 1981 organisiert der Schriftsteller Frank Geerk eine europäische Lesetournee für eine Gruppe indianischer Autoren. Keiser und Kämpf porträtieren den Dichter Raymondo Tigre-Perez.
Die in unfruchtbare «Reservate» Verbannten hatten keinerlei positive Entwicklungsperspektiven. Bis auf wenige Ausnahmen sind dementsprechend Kämpfs Indianerbilder von einer stereotyp trotzigen Resignation geprägt, während Keiser auf Augenhöhe mit ihrem Gegenüber bleibt und dem Individuum mehr Würde zu verleihen vermag.

Späte Landschaften
Die Machart von Keisers Landschaften der ersten Reisen steht in der Tradition der frühen Moderne, indem ein Bild aus Strichen und Flecken aufgebaut wird, gemäss Cézanne als autonome «harmonie parallèle à la nature». In späteren Landschaften wird diese konzeptuelle Strenge wiederum vom Bedürfnis nach kinematografisch-pathetischer Illusion verdrängt, die uns vergessen lassen will, dass wir bloss vor einer bemalten Leinwand stehen.
Zwei Bilder des sterbenden und toten Max Kämpf sind als Entre-acte in die landschaftlich dominierten Bildstrecken integriert, die Wüsten Arizonas mit den Grenzen und dem Ende menschlichen Lebens assoziierend.

Der Vater Arthur Keiser
Arthur Keiser, Tillys Vater
Der Malermeister Arthur Keiser wächst in Scuol im Unterengadin auf. Sein in Liestal gegründetes Unternehmen ist erfolgreich, er beschäftigt bis zu dreissig Angestellten und erhält regelmässig Staatsaufträge. Ausserdem fährt er Hochrad und besitzt eines der ersten Automobile Liestals. Für seine Ambitionen als Kunstmaler bleibt ihm wenig Zeit, dennoch finden seine Werke hin und wieder Eingang in die jährliche Basellandschaftliche Kunstausstellung. Umso mehr fördert er seine Tochter, die er auch mehrmals porträtiert. Angeregt und kontinuierlich durch ihren Vater gefördert, malt Tilly Keiser schon als junges Mädchen.

Frühe Förderung, Widerlichkeiten und Widerstände
Von der 11-jährigen Tilly ist ein Bildnis des Vaters erhalten. Der Hemdkragen ist zwar verzeichnet, das Kolorit jedoch bemerkenswert. Ebenso, dass Arthur Keiser seiner Tochter nicht etwa bloss Farbstifte sondern professionelle und teure Materialien zur Verfügung stellt.
Die zahllosen und bis zu 10-seitigen Briefe, welche Tilly während ihres Welschlandjahres von ihrem Vater erhielt, hat sie zeitlebens aufbewahrt (Auslage auf dem mittleren Tisch). Dieser rügt in einem der Briefe, dass sie sich nur über Kunst unterhielten, statt über ihre sprachlichen und haushälterischen Fortschritte. Nach einem nicht näher bekannten Zwischenfall holt sie der Vater überstürzt aus dem Haus des ersten Gastgebers; ein gewaltsamer Übergriff verstört die idealistische junge Frau nochmals am Ende ihres zweiten Aufenthalts. Tilly Keiser ist 18-jährig, als 1940 der von ihr verehrte Vater stirbt, seinen Tod hält sie 25 Jahre später in einem Doppelporträt fest (auf der gegenüberliegenden Stellwand platziert).
Die bereits bestehenden Spannungen mit der Mutter verschärfen sich, laut ihrem Enkel Raymond Chobaz wirft sie sämtliche Malutensilien ihrer Tochter weg und verfügt eine Sekräterinnenausbildung, damit sie «etwas Rechtes» lerne. Tilly Keiser verlässt frühzeitig das Elternhaus. Bald darauf lernt sie Raymond Chobaz (senior) kennen, den sie 1945 heiratet – auch aus Trotz gegen ihre Mutter, welche diesen nicht mochte. Im selben Jahr malt sie den Hühnerhof ihrer Schwiegereltern in Les Arbognes bei Cousset im Kanton Freiburg und die Kartoffeln schälende Bäuerin, ihre Schwiergermutter.

Welschlandjahr, frühe selbständige Versuche
Während ihres eher widerwillig angetretenen Welschlandjahrs übt sich Tilly Keiser unentwegt in der Porträt- und Landschaftsmalerei. Auf die Rückseite des Bildes Negerditti schreibt sie später «Geschenk von Kurtli Volk, als ich ins Welschland musste». Sie porträtiert die Puppe und führt das Bild offenbar als Maskottchen mit sich − eine Fotografie zeigt die 17-jährige am Ufer des Neuenburgersees, das Porträt liegt auf dem Deckel des Malkastens. Neben ihren Haushalts- und Kinderhütepflichten wird ihr erlaubt, ein Praktikum als Porzellanmalerin in einer ortsansässigen Manufaktur zu machen.
Tischbeschriftungen

Max Kämpf
Während 21 Jahren mit Max Kämpf unterwegs
Drei Fotos bezeugen die Teilnahme an einer Gruppenausstellung an der Spalenvorstadt 30 in Basel (1957 oder 1958, mit Ernst Lanz und Willy Urfer). Auf dem querformatigen Bild sind Julie Schätzle, Tilly Keiser und ihre Freundin Anna Kohler zu erkennen, Schätzle war als ebenfalls langjährige «Lebensfreundin» Kämpfs die Vorgängerin von Keiser. Auf den hochformatigen Fotos ist Max Kämpf einmal im Vordergrund und einmal im Hintergrund zu erkennen.
Kämpf stellte öfters mit Julie Schätzle aus, ein letztes Mal 1969, wollte aber zeitlebens nicht mit Keiser ausstellen. 1991, acht Jahre nach Kämpfs Tod, vereinte die Galerie Melina in Möhlin beider Werke in einer Ausstellung. Zwei der vorliegenden Besprechungen zeigen Kämpf überdeutlich als Protagonisten des Auftritts. In einem wird ihr Bild fälschlicherweise Max Kämpf zugeschrieben.
Von Kämpf als Alleinerbin eingesetzt investiert Tilly Keiser unendlich viel Zeit in die Auflösung des Ateliers und die Inventarisierung seines Nachlasses. Sie kauft einzelne Bilder zurück und lässt beschädigte Werke restaurieren. Seitens des Finanzdepartements wird sie mit einer Erbschaftssteuerschuld von über 300'000 Franken konfrontiert, verschiedene Rechtsstreitigkeiten ziehen sich über Jahre hin.
10 Jahre nach Kämpfs Tod bittet Tilly Keiser den Basler Kunsthistoriker Robert Th. Stoll (1919−2006) eine Monographie über ihren Malerfreund zu verfassen. 1992 erscheint das Buch Max Kämpf: Erinnerungen an den Menschen, Kunstmaler und Zeichner. Obwohl Stoll mit den Lebensumständen Kämpfs bestens vertraut ist, nennt er im Buch Tilly Keiser durchwegs mit ihrem bürgerlichen Namen Tilly Chobaz, erwähnt sie als Reise- und Lebensbegleiterin, nirgends aber als Malerin. Den beiliegenden Brief schrieb Tilly Keiser nach der Durchsicht des Typoskripts.
Die Initiative der ersten USA-Reise von 1973 ging von Tilly Keiser aus − sie wollte ihren Sohn besuchen, Kämpf schloss sich ihr an. Die beiden Fotos zeigen Keiser am Dead Horse Point beim Grand Canyon Nordrand und Kämpf, Keiser und Mel − ein Motelier von Mexican Hat − im Monument Valley.

Biographische Dokumente
Die Briefe, welche ihr Vater ins Welschland sandte, bewahrte Tilly Keiser bis zu ihrem Tod auf. Briefe der Mutter fehlen, obschon solche in jenen des Vaters erwähnt werden. Briefe von Tilly sind keine erhalten, vermutlich wurden sie von der Mutter weggeworfen. Unter den spärlichen schriftlichen Zeugnissen der Künstlerin finden sich lediglich noch zwei Tagebücher. Das eine, sehr unregelmässig geführt, stammt aus dem Welschlandjahr (1938/39), das andere berichtet zunächst von einer Italienreise mit ihrem Mann (1953) abrupt wechselnd zu intimen, leidenschaftlich aufgebrachten Notaten, welche vermutlich von einer Affäre mit dem Ungarn Paul Krieger zeugen, der sie zu überreden versucht mit ihm und ihrem Sohn auszuwandern (1956). In beiden Tagebüchern sind mehrere Seiten herausgerissen.
Bereits vor dem Welschlandjahr besuchte Tilly Keiser während drei Semestern die Handels- und Sprachenschule Merkur um sich mit den erworbenen Kenntnissen im väterlichen Betrieb nützlich machen zu können.
Am 1. Juni 1943 wird Tilly Keiser für den Frauen-Hilfsdienst rekrutiert und für tauglich befunden. Eine Fotografie zeigt sie 1944 rauchend in FHD-Uniform. Auf die Rückseite schreibt sie: «1939 Sept. 2. Weltkrieg / 1940 23. Jan. Tod von Papa / Schikanen der Mutter / Nazischurken / Holocaust / Allierte Bomber Nacht für Nacht / Bomben auf eine Pulverfabrik in Liestal / Bomben auf Basel / Schreckliche Jugendzeit / 1944 Yverdon F.H.D. Keiser»
Keiser bewahrt alle Kataloge der Weihnachtsausstellungen auf, welche ihre Teilnahme belegen. Ebenso die spärlichen Zeitungsartikel in welchen ihr Name erwähnt wird. Ausschnitte derselben klebt sie auf Papierbogen, selbst wenn ein Werk darin nur mit einem Nebensatz gewürdigt wird. Die Spuren von Anerkennung waren ihr wichtig, reichten aber offenbar nicht aus, um sich mutiger in der Kunstöffentlichkeit bemerkbar zu machen. Ihr Sohn Raymond Chobaz sagt: «Sie hatte Null Selbstvertrauen.»

Filmplakate
Nach dem Tod ihres Vaters beginnt Tilly Keiser in dessen Werkstatt grossformatige Plakate für das Liestaler Kino UHU zu malen und setzt damit dessen Tätigkeit fort. Währenddem von seinen Plakaten keine Dokumente erhalten sind, fotografierte Tilly Keiser zumindest einige der von ihr gemalten Plakate – die Fotos fanden sich glücklicherweise in einem Fotoalbum, welches uns ihr Sohn Raymond Chobaz aus Florida mitbrachte. Das Filmplakat als Bildgenre an der Schnittstelle von Malerei, Werbung und Film ist weitgehend ausgestorben, es überlebt fast nur noch in Indien und auf dem afrikanischen Kontinent. Der Basler Filmproduzent und -wissenschaftler Hansmartin Siegrist hat sich für den Fund begeistert und untersuchte die Dokumente im Kontext der allgemeinen und regionalen Kinogeschichte – mehr darüber finden sie in seinem Beitrag Tilly Keisers Blick aufs Kino in der zur Ausstellung erschienenen Monographie Tilly Keiser - Trotzig Träumend. Besonders interessant ist seine Beobachtung, dass die Malerin bei der Verwendung der vom Verleiher zur Verfügung gestellten Bildvorlagen eigene Akzente setzt. So entschied sie sich, für das Panneau zu Leopold Lindtbergs Der Schuss von der Kanzel (1942) trotz des von Männern dominierten Filmplots die kaum bekannte Schauspielerin Irene Naef als einzige Person abzubilden. Sie konnte dabei nicht auf das gelieferte Vorlagenmaterial zurückgreifen, sondern behalf sich mit einem kleinen Foto aus einer Filmzeitschrift.